Umbruch 1969 / 21.02.10
SPD-Wahlplakat zur Bundestagswahl 1969
Bei den Bundestagswahlen im Jahre 1969 lag die SPD erstmalig über 40 %. SPD und FDP zusammen hatten mehr Mandate als die CDU/CSU und bildeten die sozialliberale Koalition. Die ‘Ära Brandt’ begann, eine enorme Reform- und Aufbruchstimmung ergriff das ganze Land. Brandts Leitsätze in der Regierungserklärung am 28.10.1969 „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ und „Mehr Demokratie wagen“ wurden berühmt.
In der Zeit um 1969 bis 1971 fand in der münsterschen SPD ein heftiger Umbruch statt. „Seit 1969 tobte in Münsters SPD ein Machtkampf zwischen der alten Funktionärsgeneration und Jungsozialisten“; „Was wir vorwärts gebracht haben, war die Herrschaft der Jungen, vor allem von Akademikern, in der münsterschen SPD, die glaubten, alles Recht auf ihrer Seite zu haben die politische Zukunft zu bestimmen, …“ beschreibt Klaus-Dieter Franke diese Phase. (Zum Nachlesen: 125 Jahre SPD in Münster, „Zäsuren – der Umbruch 1971“.)
In dieser turbulenten Phase wurde der SPD-Ortsverein Süd aufgeteilt. In Berg Fidel entstand ein neues Wohngebiet, und die dort wohnenden GenossInnen organisierten sich in einem eigenen Ortsverein Berg Fidel. Er ging 2004 im Ortsverein Hiltrup-Berg Fidel auf.
Auch in der Hiltruper SPD gab es einen heftigen Umbruch: Nach der Kommunalwahl 1969 musste
Marga Niedenführ in einer Kampfabstimmung den Vorsitz der 9köpfigen SPD-Fraktion im Gemeinderat an Joachim Riedel abgeben. Bis 1970 war sie noch Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, dann übernahm zunächst der Architekt Horst Kaisers und ab 1971
Dr. Dietrich Thränhardt den Vorsitz. Als sie 1972 ihr 25jähriges Hebammen-Jubiläum und gleichzeitig ihr 20jähriges Politik-Jubiläum feierte, war sie noch (bis zur kommunalen Neuordnung 1.1.1975) Abgeordnete im Kreistag.
Mit der „Konsenspolitik am Biertisch“ war es nun vorbei. Die SPD machte schwungvoll Oppositionspolitik.
Um 1970 bezog die SPD Hiltrup Stellung gegen die Erweiterung des Hotels am Steiner See (Krautkrämer) und gegen die Ansiedlung des Tennisclubs; sie forderte den Umbau eines vorhandenen alten Gebäudes zum Jugendzentrum (ein Schwerpunktthema der SPD in den folgenden Jahrzehnten) und Nutzung des Geländes zur Naherholung. (Quelle: mündliche Angaben von Horst Kaisers)
Die Dominanz der örtlichen CDU in vielen Bereichen nahm die SPD nun nicht mehr als selbstverständlich hin; der SPD-Vorsitzende Horst Kaisers beschwerte sich z.B. beim VW-Werk dagegen, dass die CDU eine Parteiveranstaltung in den Räumen des VW-Händlers Hollenhorst durchführte.
In der Schulpolitik trug die SPD Hiltrup den Ratsbeschluss mit, dem kirchlichen Kardinal-von-Galen-Gymnasium einen jährlichen Zuschuss von 50.000 DM zu zahlen, nachdem es sich 1968 für Evangelische und für Mädchen geöffnet hatte. Schulpflegschaftsvorsitzender war zu dieser Zeit der SPD-Vorsitzende Horst Kaisers. (Quelle: mündliche Angaben von Horst Kaisers; Internetauftritt des KvG ).
Auf Initiative der SPD beschloss der Hiltruper Rat, dass 25% des neu ausgewiesenen Baulands verbilligt an Familien abgegeben werden mussten.
Die SPD Hiltrup trug [später nicht realisierte] Pläne der Verwaltung mit, an der (damals noch fast unbebauten) Patronatsstraße ein Stadtteilzentrum zu schaffen und den Verkehr von der Westfalenstraße auf die Meesenstiege zu verlagern. Die SPD forderte eine Kanalunterführung anstelle der [später realisierten] Hochbrücke und eine „Fußgängerzone Marktallee“ (Quelle: mündliche Angaben von Horst Kaisers).
Ab 1971 gab die Hiltruper SPD eine eigene Stadtteilzeitung heraus: „Hiltrup heute und morgen“
Die SPD wurde in der Berichterstattung der konservativen Lokalzeitungen nicht ausreichend berücksichtigt. Daneben existierte eine anzeigenfinanzierte Stadtteilzeitung der CDU („Hiltruper Anzeiger“). Um 1971 startete die SPD Hiltrup daher eine eigene anzeigenfreie Stadtteilzeitung mit dem Titel „Hiltrup heute und morgen“, die ungefähr 3x jährlich an alle Haushalte in Hiltrup verteilt wurde. (Eine Übersicht der erhaltenen Ausgaben finden Sie hier. Hiltrup heute und morgen erschien bis 1994 und wurde später durch die Internetseite www.spd-hiltrup.de ersetzt.)
1972 wurde auf Antrag der SPD-Fraktion ein Schulkindergarten bei der Paul-Gerhardt-Schule errichtet; die CDU verkaufte das in ihrer Stadtteilzeitung als ihren Erfolg. Hiltrup heute und morgen Nr. 4 fragte öffentlich: „Was hatte nun die CDU damit zu tun?“
In derselben Ausgabe von „Hiltrup heute und morgen“ griff die SPD den CDU-Bürgermeister Dr. Tölle frontal an: „Bodenspekulation verquickt mit Bürgermeisteramt … Herr Tölle, seines Zeichens CDU-Ratsmitglied, Rechtsanwalt und Bürgermeister, schafft es mit leichter Hand, seinen Reichtum zu vermehren. …“ – die SPD Hiltrup machte damit ein Grundstücksgeschäft der Familie Tölle publik: “Kauf von Ackerland am Sternkamp im Gebiet der Gemeinde Amelsbüren, Erschließung mit Einvernehmen der Gemeinde Hiltrup durch Anschluss an die Hiltruper Infrastruktur, Aufstellung eines Bebauungsplans durch die Gemeinde Amelsbüren, Verkauf als Bauland.” (Der SPD-Vorsitzende Dr. Dietrich Thränhardt wurde daraufhin von Dr. Tölle verklagt, der Prozess endete mit einem Vergleich.)
Im Sommer 1972 hatte die sozialliberale Koalition im Deutschen Bundestag keine ausreichende Mehrheit mehr zur Ratifizierung der Ostverträge. Am 20. September stellte Willy Brandt nach Art. 68 GG die Vertrauensfrage, der Bundestag wurde aufgelöst. Die SPD stellte den Bundeskanzler in einem emotional geprägten Wahlkampf völlig in den Mittelpunkt ihrer Kampagne: ‘Willy wählen’ und ‘Auf den Kanzler kommt es an’ waren die Slogans.
SPD-Wahlplakat zur Bundestagswahl 1972
61 Hiltruper Bürger unterzeichneten zur Bundestagswahl am 19.11.1972 einen Wahlaufruf für Willy Brandt, der in Hiltrup heute und morgen Nr. 4 veröffentlich wurde.
“Ich bin für Willy”: Wahlwerbung 1972 auch auf dem Kinderwagen
Willy Brandt erreichte für die SPD mit 45,8 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte, eine eindeutige Bestätigung für die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt-Scheel.
Mit Beginn der Ära Brandt im Jahre 1969 und mit dem grandiosen Wahlerfolg bei der Bundestagswahl 1972 begann die große Euphoriephase in der SPD, die ihr viele neue Mitglieder einbrachte, die aber bald der mühseligen Arbeit weichen musste und der Erkenntnis, dass nicht alle wichtigen Probleme über Nacht gelöst werden können. Auch in Hiltrup dauerte dieser Weg vielen Neueingetretenen zu lange, sie verließen die SPD wieder.
Der Vorsitz der SPD Hiltrup ging 1973 von Dr. Dietrich Thränhardt für insgesamt zehn Jahre auf den Polizeibeamten
In den Jahren 1975 bis 1980 hatte die Hiltruper SPD konstant zwischen 120 und 130 Mitglieder, davon zunächst die Hälfte Jusos (SPD-Mitglieder unter 36 Jahren); bis 1980 sank ihr Anteil auf ein gutes Drittel (für die Jahre davor und für die folgenden Jahre 1981 und 1982 sind keine Daten mehr verfügbar).
In den Jahren der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung erlebten Hiltruper Sozialdemokraten gelegentlich nicht nur den Konflikt mit dem politischen Gegner, sondern auch mit der “eigenen” sozialliberalen Regierung.
1973 erwarb das Land NRW das alte Hiltruper Paterkloster. Das Gebäude wurde zunächst von der 1973 eingerichtete Polizeiführungsakademie Hiltrup (heute: Hochschule der Polizei) genutzt sowie vom Kardinal von Galen-Gymnasium. (Über das weitere Schicksal des Gebäudes – Abriss oder öffentliche Nutzung? – wurde später heftig gestritten, bevor es schließlich in eine Anlage von Kleinwohnungen umgebaut wurde.)
Im Dezember 1973 verlegte Die CDU-Ratsmehrheit gegen den Rat von Pädagogen und gegen die Stimmen der SPD den Schulkindergarten der Paul-Gerhardt-Gemeinschaftsschule aus dem Grundschulzentrum in die alte Clemensschule „ins Getto“. Am 3.4.1974 beschloss der Gemeinderat, den Schulkindergarten wieder in das Grundschulzentrum zurückzuverlegen (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6).
„Der Versuch bestimmter Gruppen im Gemeinderat, die Errichtung eines Aldimarktes in der Bahnhofstraße zunächst einmal zu verhindern, …“: Die SPD Hiltrup trat im April 1974 dafür ein, das [Einzelhandels-] Angebot in Hiltrup erheblich zu erweitern (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6).
Die Hiltruper Jusos inspizierten die Kinderspielplätze und forderten Instandsetzung / Neugestaltung und regelmäßige Reinigung; längerfristig forderten sie die Einrichtung eines Abenteuerspielplatzes (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6).
Im Mai 1974 trat Willy Brandt im Zuge der Guillaume-Affäre (die DDR hatte den Spion Guillaume in Brandts unmittelbares Umfeld eingeschleust) als Bundeskanzler zurück. Sein Nachfolger wurde Helmuth Schmidt, der zuvor Verteidigungs- und Finanzminister gewesen war.
Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982
Die Eingemeindung Hiltrups nach Münster zum 1.1.1975 stand bevor. „Gemeinsam haben sich daher Gemeinderat, Gemeindeverwaltung und alle Parteien bemüht, die Entwicklungsrichtung der Gemeinde Hiltrup über den Termin der Eingemeindung hinaus vorzugeben. Es wurden Flächennutzungspläne so verändert, daß der Wohnwert der Gemeinde Hiltrup voraussichtlich auch nach der Eingemeindung erhalten bleibt, und die Hiltruper Bürger nochmals preiswert Bauland kaufen können. Kommunale Kindergärten wurden errichtet und der Ausbau des Schul- und Freizeitzentrums intensiviert. …“ (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 6). Für den westlichen Siedlungsbereich konnte kein städtebauliches Entwicklungsprogramm festgelegt werden, da die Trasse einer damals geplanten EB 54 nicht feststand; deshalb entschloss man sich wegen des zunehmenden Nachfragedrucks in Hiltrup, ins Emmerbachtal auszuweichen und hier ein Flächenangebot durch Bebauungspläne zu sichern. Mit dem Baubeginn des Schul- und Freizeitzentrums (der heutigen Stadthalle Hiltrup) wurden Fakten geschaffen zu Lasten des Haushalts der Stadt Münster.
Über das Planungskonzept für die heutige Hiltruper Stadthalle gab es erhebliche Auseinandersetzungen. Die SPD Hiltrup forderte im Dezember 1974 für das „Aula-Mehrzweckgebäude“ einen Benutzerrat und auch schulische Nutzung („… schulische Veranstaltungen …, u.a. als Mensa einer Ganztagsschule, hat als offene Einrichtung allen Bürgern, auch Nichtorganisierten, zur Verfügung zu stehen.“) (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 7).
Ebenfalls im Dezember 1974 forderte die Hiltruper SPD ein Verkehrs-Gesamtkonzept für Hiltrup – ein Thema, das über Jahrzehnte die Kommunalpolitik beschäftigen sollte (Quelle: Hiltrup heute und morgen Nr. 7).
Nach dem mündlichen Bericht eines Zeitzeugen gab es in diesen Jahren im Haushalt der Gemeinde Hiltrup keine „Löcher“, sondern im Gegenteil: an Jahresenden musste noch schnell Geld ausgegeben werden. Hiltrup war Industriestandort! 1970 arbeiteten fast 70% aller im heutigen Stadtbezirk Hiltrup (einschließlich Amelsbüren und Berg Fidel) Beschäftigten in Betrieben des produzierenden Bereichs (Stadt Münster: 26%); Hiltrup hatte einen Berufseinpendler-Überschuss, in den 13 Industriebetrieben Hiltrups arbeiteten 1973 über 3.100 Beschäftigte.