Viel UN-Staub um Bildung / 23.03.07
In den Medien ist es ausführlich berichtet worden, die vereinigten Bildungspolitiker haben aufgeschrieen. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung Prof. Dr. Vernor Muñoz Villalobos hat es gewagt, Kritik am deutschen Schulsystem zu äußern. Schnell war man sich einig: er habe keine Ahnung.
Wenn Sie wissen wollen, was er wirklich gesagt hat, finden Sie hier den Link zu seinem Bericht an den Rat für Menschenrechte der Vereinten Nationen (24 Seiten).
Auszugsweise einige Zitate:
“Darüber hinaus haben zahlreiche Untersuchungen, die im Rahmen des PISA-Programms durchgeführt wurden, gezeigt, dass in Deutschland ein enger Zusammenhang zwischen sozialem / Migrationshintergrund der Schüler und den Bildungsergebnissen besteht. Dies war u.a. auch ein Auslöser der Bildungsreform. Die Reform wird vor allem von der Notwendigkeit bestimmt, ein System zu schaffen, das den spezifischen Lernbedürfnissen jedes einzelnen Schülers besser entgegenkommt. In dieser Hinsicht legt der Sonderberichterstatter der Regierung eindringlich nahe, das mehrgliedrige Schulsystem, das selektiv ist und zu einer Form der De-facto-Diskriminierung führen könnte, noch einmal zu überdenken. In der Tat geht der Sonderberichterstatter davon aus, dass bei dem Auswahlprozess, der im Sekundarbereich stattfindet (das Durchschnittsalter der Schüler liegt abhängig von den Regelungen der einzelnen Länder bei 10 Jahren) die Schüler nicht angemessen beurteilt werden und dieser statt inklusiv zu sein exklusiv ist. Er konnte im Verlaufe seines Besuchs beispielsweise feststellen, dass sich diese Einordnungssysteme auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie Kinder mit Behinderungen negativ auswirken. …
23. Deutschland ist – zusammen mit Belgien und den Niederlanden – eines der drei OECD-Länder, die das Alter der Pflichtschulbildung auf 18 Jahre heraufgesetzt haben. Das Schulsystem verzeichnet relativ hohe Beteiligungsraten auf allen Schulebenen. Beispielsweise besuchten 2001 89 % der 15- bis 19-jährigen die Schule; dies lag ein ganzes Stück über dem OECD-Durchschnitt (78 %). Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass in der Sekundarstufe II mehr als die Hälfte der Schüler als Bestandteil ihrer beruflichen Bildung die Schule auf Teilzeitbasis besuchen und dass der Anteil von Schülern im Sekundarbereich, die sich in Bildungsgängen befinden, die zu einer Hochschulzugangsberechtigung (Abitur) führen, geringer ist (37 %) als im OECD-Länderdurchschnitt von 49 %.
32. ... Die Unterstützung und Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund scheint in anderen Ländern erfolgreicher zu verlaufen als in Deutschland. …
49. Der Sonderberichterstatter stellt fest, dass die erfolgreiche Reform des gesamten deutschen Bildungssystems als Ganzes sowohl inhaltlicher als auch struktureller Reformen bedarf. Es sollten sieben Kernbereiche herausgestellt werden:
- Wandel von einem selektiven Bildungssystem zu einem System, bei dem das Individuum unterstützt wird und dessen spezifische Lernfähigkeiten im Mittelpunkt stehen;
- größere Unabhängigkeit der Schulen, dies bedeutet, dass Schulen flexibel und autonom in der Nutzung ihrer Finanzen, der Einstellung von Lehrern und der Umsetzung der zentralen Zielsetzungen sein sollten;
- Verbesserung der Bildungsinhalte und Methoden, insbesondere durch eine systematische Sprachausbildung der Migranten, die Verstärkung der Lesefähigkeiten und die Einführung neuer Medien;
- Verstärkung der demokratischen Schulkultur, indem man dem Kind mehr Autonomie und die Möglichkeit gibt, seine Kompetenzen einzusetzen;
- die Strukturen sollten so gestaltet werden, dass sie jedem die Chance geben, sein/ihr Potenzial auszuschöpfen, beispielsweise durch verstärkte Kindergartenangebote, die Einführung von Ganztagsschulen und den Verzicht auf ein gegliedertes Schulsystem. Im Hinblick auf das Letztgenannte sollte festgehalten werden, dass – trotz erfolgreicher ausländischer Beispiele eines Schulsystems für alle Schüler, durch das Kinder die Möglichkeit haben, für einen längeren Zeitraum gemeinsam zu lernen und durch das alle angehalten werden, bessere Ergebnisse zu erzielen – die Diskussion über das mehrgliedrige System, das der Sonderberichterstatter für extrem selektiv hält, große Angst und Widerstand auszulösen scheint, insbesondere Besorgnis über den Verlust von Privilegien für diejenigen, die am meisten vom aktuellen System profitieren;
- eine andere Ausbildung für Lehrer, die nicht nur in ihrem Fachgebiet spezialisiert sein sollten, sondern auch auf pädagogischer Ebene;
- stärkere Investitionen und mehr Finanzmittel für frühkindliche Unterstützung, dafür sollten die Finanzen besser investiert und verteilt werden. Viele Länder sind bereits äußerst aktiv in der Einführung verschiedener der oben genannten Aktivitäten, so Prioritäten 1, 3, 6 und 7. …
55. Es ist offenkundig, dass die frühe Einstufung Auswirkungen für weniger begünstigte Kinder und Jugendliche hat, also für Schüler aus armen Verhältnissen sowie Schüler mit Migrationshintergrund oder Behinderungen. Dies wird durch die unwiderlegbare Tatsache untermauert, dass arme und Migrantenkinder in der Hauptschule überrepräsentiert und am Gymnasium unterrepräsentiert sind. Das System scheint folglich einen negativen Effekt zu haben, denn die Benachteiligten werden zu doppelt Benachteiligten.
56. Diese Einstufung scheint das System nicht auf Einbeziehung, sondern eher auf Trennung als Bildungsstrategie auszurichten, da eine Bildungsstruktur vorherrscht, die die Schüler nicht immer angemessen qualifiziert. Dazu hat beispielsweise eine der IGLU-Studien festgestellt, dass 44 % der Einstufungen für den weiteren Schulweg nicht den Merkmalen der Kinder entsprechen. Diese Tatsache ist juristisch relevant, wenn man den im Übereinkommen über die Rechte des Kindes festgelegten Grundsatz vom Wohl des Kindes berücksichtigt. …
93. Die nationale Debatte über die Beziehungen zwischen den derzeitigen Bildungsstrukturen und dem Phänomen der Ausgrenzung oder Marginalisierung von Schülern, insbesondere von solchen mit Migrationshintergrund und von Menschen mit Behinderungen, muss angeregt und vertieft werden. Im Rahmen dieser Debatte kann außerdem analysiert werden, ob es zweckmäßig ist, gleichzeitig an einem zweigliedrigen und dreigliedrigen System festzuhalten.
94. Die Vorschulerziehung soll kostenfrei in das reguläre Bildungssystem einbezogen werden und für alle Kinder zugänglich sein, wobei auch die Zugangsmechanismen dergestalt überprüft werden, dass niemandem das Recht auf Bildung vorenthalten wird. …
97. Die Politik und Praxis der Einstufung der Schüler (mit 10 Jahren), mit der die Möglichkeit des Zugangs zur unteren Sekundarstufe festgelegt wird, ist zu überprüfen, damit festgestellt werden kann, ob eine derart frühe Einstufung den Rechten, Interessen und Bedürfnissen der Schüler gerecht wird.
98. Die soziale, wirtschaftliche und pädagogische Hilfe für die Schüler, die nicht Deutsch als Muttersprache haben, soll verstärkt werden.”
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