Der Waldpark - ein grünes Stück Hiltrup mit dunkler Vergangenheit / 14.10.09
Wenn man heute bei klarem Herbstwetter durch den farbenprächtigen Waldpark an der Prinzbrücke in Hiltrup Ost spaziert, ahnt man nichts von dessen dunkler Vergangenheit.
Hier befand sich während des zweiten Weltkriegs ein Zwangsarbeiterlager dessen Geschichte die Münsteraner Historikerin Dr. Gisela Schwarze gründlich erforscht hat:
Zwangsarbeit in Hiltrup
In Erinnerung an das Ostarbeiterlager “Waldfrieden”
Die Führer des Nationalsozialismus speisten ihre Ideologie der Unmenschlichkeit aus dem Antisemitismus mit seinen Vorbildern seit dem Mittelalter, dem Rassismus, der in der Zeit der weißen Kolonialarroganz aufblühte, und dem Sozialdarwinismus, der die Auslese nach dem Prinzip des Stärkeren vollzog. Die Nazi-Rassenlehre erklärte alle Blonden und Blauäugigen zu “Ariern”(d.h. “germanisch”), die höherwertiger seien als alle anderen Menschen und deshalb “Herrenmenschen” wären. Unter diesen Herrenmenschen beanspruchte Hitler die Rolle des (von Gott berufenen) “Führers”. Niederländer und Skandinavier erklärte man auch zu Ariern, die allerdings durch ihre anderen Staatsformen” verdorben” seien. Alle anderen Völker galten als “fremdvölkisch” oder – wie die slawischen Völker – als “schlechtrassisch”. Das unterste Ende der Rassenskala ordnete man der jüdischen Bevölkerung zu, deren Vernichtung offen propagiert und in den Jahren ab 1941 auch ausgeführt wurde – unter Beteiligung nicht unbeträchtlicher Teile der deutschen Bevölkerung.
Hitlers Weltmachtphantasien, die aus diesem Wahn einer rassischen Vorherrschaft erwuchsen, wurden ab 1934/35 Grundlage der mehrjährigen Kriegsvorbereitungen in Wehrmacht und Wirtschaft. Mit Blitzkriegen gedachte man, die Voraussetzungen für einen Großwirtschaftsraum in Europa unter deutscher Führung zu schaffen. Der rassistischen Zuordnung der zu erobernden europäischen Völker entsprachen die Strukturierungspläne: In Westeuropa eine arbeitsteilige Industrielandschaft unter deutscher Führung, in den zu erobernden Ländern des Ostens und des Südostens das Abschöpfen der Rohstoffe, Vernichtung der Intelligenz und jüdischen Bevölkerung und letztlich die Versklavung der übrigen Bevölkerung.
Die Umsetzung dieser Ziele begann unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939. Während die polnischen Kriegsgefangenen sofort in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, begann die SS mit der Ermordung der polnischen Intelligenz und der Gettoisierung der Juden.
1940 folgte die Besetzung Norwegens, Dänemarks, der Benelux-Länder und Frankreichs. Sofort versuchte man, neben den Kriegsgefangenen Zivilarbeiter auf Kontraktbasis ins Reich zu verpflichten, um dem Arbeitskräftemangel aufgrund der Einberufungen der deutschen Männer zum Militär entgegenzuwirken. Die in Polen “erprobten” Methoden der Unterdrückung und Ausbeutung mündeten nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in unbeschreiblicher Grausamkeit in einen Vernichtungskrieg. Hitlers Ziel war, die Sowjetunion wirtschaftlich und politisch zu beherrschen, um deren Ernteprodukte und Bodenschätze auszubeuten und die “reduzierte” Bevölkerung zu versklaven. Sofort begann man auch hier mit der Ermordung der Eliten und aller Juden. Himmler plante mit dem Generalplan “Ost” die Ansiedlung deutscher Kolonisten.
Nachdem im Dezember/Januar 1941/42 von den 3,35 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen knapp zwei Millionen verhungert, erfroren, erschossen waren, kam der Rest nach Deutschland in die Bergwerke und Rüstungsfabriken. Innerhalb eines Vierteljahres waren 47 Prozent verhungert oder an Fleckfieber gestorben. Daraufhin beschloss man auf Drängen der Wirtschaft die Deportation von Zivilisten aus der Sowjetunion. Man begann mit den Jugendlichen. 10.000 – 20.000 pro Woche brachte die Reichsbahn nach Deutschland. Ab 1943 – nach Stalingrad hatte der Rückmarsch der deutschen Armee eingesetzt – folgte die Deportation der vor den Kampfhandlungen flüchtenden Zivilbevölkerung. Letztlich hat man ganze Dörfer mit alten Leuten, Frauen und Kindern in die Sklaverei getrieben. 1944 waren es insgesamt 2,2 Millionen Menschen – die über 700.000 Kinder nicht mitgezählt -, die meist unter barbarischen Bedingungen in Deutschland schuften mussten.
Aufgrund der Reichsplanung zum Einsatz von “Fremdarbeitern” errichtete die Stadt Münster zu Kriegsbeginn das Lager Mecklenbeck an der Weseler Straße für 800 Menschen, bei Kriegsbeginn zunächst mit deutschen Soldaten belegt. An der Grenze zu Angelmodde in Gremmendorf entstand ein Barackenlager für 600 Menschen und im Jahr 1940 in Hiltrup das Lager “Waldfrieden” mit 8 Wohnbaracken für 480 Menschen. Eine alte Flurkarte des Landkreises ohne Bebauung des “Herrenbrock” wurde am 11. 2. 1940 “außer Gebrauch gesetzt”. Es ist anzunehmen, dass sich das Gelände in städtischem Besitz befand. Von 1940 bis 1945 wurden alle drei Lager in Zusammenarbeit mit der “Deutschen Arbeitsfront” (DAF) – eine NS-Massenorganisation für alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber – mit ausländischen Arbeitskräften belegt.
Die mit der Besetzung Norwegens, Dänemarks, der Benelux-Länder ins Reich verpflichteten zivilen Kontraktarbeiter wurden im gesamten Stadtgebiet Münster, auch über die DAF-Lager zum Arbeitseinsatz gebracht. Ihnen folgten dann in großer Zahl französische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter. Auch Großfirmen wie die Flugzeugfabrik Hansen am Dahlweg und Winkhaus erhielten sogenannte “Fremdarbeiter”, für die Barackenlager errichtet worden waren.
Hiltrup, damals zum Landkreis gehörend, war ein stark industrialisiertes Dorf mit Bedeutung für die Kriegswirtschaft. Gleichzeitig hatten sich NS-Funktionäre dort etabliert, die im Dorf und in den Wirtschaftsbetrieben versuchten, den Ton anzugeben. Neben den Parteifunktionären der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) hatte sich vor allem die Deutsche Arbeitsfront (DAF) in Hiltrup angesiedelt. Sie unterhielt ein Zentrallager Kleidung für Zwangsarbeiter für den Gau Westfalen-Nord und 1943 die “Bauhilfe der DAF für den sozialen Wohnungsbau” mit dem Betrieb des Bauhofes Westfalen-Nord. Letzterer wurde 1943 zum Lager Mecklenbeck verlegt. Von Hiltrup kamen Aufseherinnen für das große Entbindungslager für Ostarbeiterinnen und Polinnen in Waltrop Kreis Recklinghausen. Auch die Organisation Todt (OT), eine NS-Bauorganisation, die vor allem Militäranlagen errichtete, ließ sich während des Krieges auch in Hiltrup nieder. Ihr Einsatzleiter hatte sein Büro beim NS-Bürgermeister Elfering. Die OT war berüchtigt für ihren menschenverachtenden Umgang mit ihren Arbeitskräften. Gegen Ende des Krieges ließ sie wohl zwei Doppelreihen von primitiven Hütten in einer Aussandung der Hohen Ward errichten, wie zwei Hiltruper Zeugen beschreiben. Das Lager war, wie alle OT-Lager, bewacht. Vermutlich waren die Lagerinsassen bei Instandsetzungsarbeiten der Reichsbahn eingesetzt. Ebenso kamen Niederländer der Rotterdamer Massendeportation (50.000 Männer) vom November 1944 nach Hiltrup und kampierten in der alten Mädchenschule und in der Jungenschule an der Patronatsstraße. Sie arbeiteten an der Reichsbahn.
“Glasurit” und die Hiltruper Röhrenwerke (Hoesch) waren die beiden größten Unternehmen und bekamen auch die meisten Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter zugewiesen. Glasurit stellte Tarnfarben her, die Röhrenwerke produzierten Rohre für Geschütze. Bei Glasurit arbeiteten vor allem Franzosen, die nach Aussagen von Zeitzeugen in der Gaststätte Ötte Vogt Quartier hatten. Auf dem Werksgelände der Hiltruper Röhrenwerke befand sich ein großes Gemeinschaftslager, mehrfach genannt unter Industriestraße 4 (heute Nobelstraße). Ende 1940 sollen 45 französische Zivilarbeiter für die Röhrenwerke in das Lager “Waldfrieden” eingewiesen worden sein. Wegen des schlechten Essens aus der Lagerküche sollen sie mit Arbeitsniederlegung gedroht haben. Der Bürgermeister suchte daraufhin Frau R., Besitzerin der ehemaligen Kanalbaukantine, später “Haus Sonnenborn”, auf und teilte ihr mit, sie habe diese Franzosen aufzunehmen und für sie zu kochen. Ihr Mann war bereits eingezogen, sie mit den Kindern allein. Sie hat dann für die mehrheitlich aus der Normandie stammenden Bauernsöhne gekocht. Zwei Tage vor Einmarsch der Alliierten haben sie sich nach einem Luftangriff auf Hiltrup abgesetzt. Frau R. wurde dann von Polen aus dem OT-Lager in der Hohen Ward überfallen, die Schnaps haben wollten.
Mit dem Fall Stalingrads am 1. Februar 1943 vollzog sich die Wende im Zweiten Weltkrieg. Die deutschen Truppen befanden sich an der Ostfront auf dem Rückzug. Um so brutaler reagierten die Partei- und SS-Führer. Reichskommissar Koch und Himmler verfügten ab April 1943 “eine große konzentrierte Bandenbekämpfungsaktion in den Nordgebieten (der Sowjetunion) mit dem Ziel der völligen Evakuierung der Bevölkerung und restlosen Erfassung aller Arbeitskräfte für das Reich.” Daneben blieb der Barbarossabefehl bestehen, nach dem alle Dörfer, aus denen nur der geringste Widerstand kam, mit allen Bewohnern niedergebrannt wurden. Ein Viertel der weißrussischen Bevölkerung wurde so vernichtet.
Und Iwan Putschinski, der uns in Münster besuchte, verlor so die Eltern und den jüngsten Bruder und sein Heimatdorf. Mit zehn Jahren wurde er nach Münster deportiert und kam in das Lager “Waldfrieden”, wo er so schrecklich hungerte, weil er als Kind nur die Hälfte der Erwachsenen-Hungerration erhielt: 1/2 Liter Steckrübensuppe und 1 Scheibe Russenbrot, aus Roggenschrot und Baumrinde gebacken. In Abmachung mit dem Lagerkommandanten ließ er sich zwei Jahre älter machen, damit er die doppelte Menge erhielt. Allerdings musste er dann auch 12 Stunden täglich arbeiten. Mit 13 Jahren kehrte er 1945 heim und musste bei einem Bauern seinen Unterhalt verdienen. So blieb er Analphabet.
Im Rahmen eines umfangreichen Schriftwechsels mit ehemaligen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus Russland und der Ukraine berichteten sieben damalige Kinder und Minderjährige, die damals allein oder mit Angehörigen in Hiltrup waren. Alexandra Pawlowna T. kam mit 15 Jahren in die Hiltruper Röhrenwerke, Iwan Putschinski mit 10 Jahren und zwei Brüder in das Lager “Waldfrieden”, ebenso Nikolai Karpow mit der Großmutter, Nadeshda Jegorowna A. mit Vater, Mutter und Schwester, Valentina Fjodorovna St. mit Vater, Nina L. mit Mutter und Schwester und Nadeshda Wladimirowna M. mit Vater, Mutter, Bruder und zwei Schwestern.
Im Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen hat sich eine Liste der in Hiltrup beschäftigten Ausländer erhalten, die vom Landkreis Münster am 21.2.1949 der britischen Militärverwaltung übergeben wurde. Sie enthält die Namen von 351 ausländischen Arbeitskräften, ist aber bezüglich Glasurit unvollständig, da sie nur 10 Namen nennt. Es fehlen die französischen Namen gänzlich, außerdem waren mehr Polen und Sowjetrussen beschäftigt. Die Liste nennt für die Hiltruper Röhrenwerke 181 ausländische Arbeitskräfte, 118 Männer und 63 Frauen. Alle anderen ausländischen Arbeitskräfte verteilten sich im gesamten Dorf bei Landwirten, Handwerksbetrieben und in Privathaushalten: Russen, Ukrainer, Polen, Franzosen, Niederländer, Italiener, Jugoslawen, Staatenlose und Belgier, unter ihnen ein Kind. “Europa im Reichseinsatz” hieß es großspurig bei den Nazis. Nach den standesamtlichen Eintragungen wurden von Frauen aus den Hiltruper Röhrenwerken 4 “Russenkinder” geboren.
Die Arbeitsverhältnisse in den Hiltruper Röhrenwerken, die zu Hoesch gehörten, waren durch den Werksleiter, einen fanatischen Nazi, für die Ausländer lebensgefährlich. Er hortete Waffen, schlug Russen und Polen, lieferte sie an die Gestapo, so dass nachweislich zwei Polen umgebracht wurden, wohl auch ein Franzose, dessen Flugzeug abgeschossen wurde und der sich mit dem Fallschirm retten wollte. Er wurde von diesem Werksleiter beschossen – gegen jedes Völkerrecht – und ist wohl gestorben. Dieser Werksleiter wurde aufgrund von Anzeigen aus dem Werk von den Alliierten verhaftet und landete in Warschau in Haft. Nach vier Jahren wurde er entlassen und arbeitete dann wieder im Werk. Die Aussagen gegenüber den alliierten Gerichten liegen vor, ebenso die von Kollegen und dem Firmendirektor. Sie machen das verbrecherische Tun deutlich.
Das Lager “Waldfrieden” wird in der Meldung des Landkreises im Jahre 1949 überhaupt nicht erwähnt. Es galt wohl als “städtisch” und wurde deshalb nicht genannt. Wie verhielt es sich mit diesem Lager, von dem heute nur noch die drei alten Erdbunker im Wald, eine alte Karte, ein Foto von der Lagerführerbaracke erhalten sind und von dem die ehemaligen Zwangsarbeiterkinder in Briefen und bei ihren Besuchen berichteten und vor allem Nikolai Karpow in seiner Erzählung “Der kleine Ostarbeiter” (Ardey Verlag Münster/Buchhandel) schreibt.
Im Stadtarchiv Münster befindet sich ein Mietvertrag der Stadt Münster mit der “Bauhilfe der DAF für den sozialen Wohnungsbau” für das Jahr 1943 zur Unterbringung einer französischen Dachdeckerkompanie, die sich dann bis zum 31.8.1943 im Lager befand. In der Kriegschronik des früheren Stadtarchivars Wiemers (Stadtarchiv) befindet sich ein Foto: Handwerker vor der Rückfahrt ins Handwerkerlager Hiltrup. Dem Mietvertrag lag ein Plan des Lagers vom 26.8.1941 bei. Danach bestand das Lager 1943 aus:
1 Führerbaracke
8 Mannschaftsbaracken
1 Gemeinschaftsanlage mit Kücheneinrichtung, Kantine und Gemeinschaftsraum
1 Abort- und Waschbaracke mit Duschanlage, Wäschetrockenraum
und Heizungsanlage
1 Waschbaracke
1 Kohlenschuppen mit Stallung
3 Luftschutzsplittergräben
1 Lebensmittelbunker
Die vierteljährliche Miete betrug 11.175 RM. Bereits am 12. Mai 1943 verwies die Bauhilfe darauf, dass das Lager weiterhin als Durchgangslager “für die uns zu überweisenden Ostarbeiter erforderlich ist.”
Für die DAF-Lager Gremmendorf und “Waldfrieden” werden gern die deutschen Nachkriegsangaben gegenüber belgischen Ermittlern angeführt, die Lager seien offene Wohnlager ohne Bewachung gewesen. Das mag für die Anfangsjahre zutreffen. Spätestens im Spätsommer 1943 wurden beide Lager mit Stacheldraht hoch umzäunt, den die damals aus der Sowjetunion ankommenden Kinder als “noch nicht rostig” und “neu” in Erinnerung haben. Ebenso gab es in beiden Lagern bewaffnete Wachmänner, von denen auch Anwohner berichten, denen allein die Bunker zur Verfügung standen.
Die dann im Laufe des Jahres 1943 in großer Zahl eintreffenden Zivilisten aus der Sowjetunion kamen in Münster vor allem in die Reichsbahnlager und in die beiden DAF-Lager Mecklenbeck und Gremmendorf.
Jevgenij Viktorowitsch P., Jahrgang 1930, beschreibt seine Ankunft in Münster: “Es war später, dunkler Abend. Man stellte uns in Reih und Glied in einer großen Kolonne auf und führte uns (die Wachmannschaft war bewaffnet) in die Vorstadt. Ich weiß noch, dass der Weg asphaltiert war. Wir gingen etwa drei bis vier Kilometer bis zum Lager Mecklenbeck, in dem Baracken und auch Bunker standen. Zu essen gab es ein kleines Stückchen Brot und gekochte Steckrüben. Mutter verzichtete auf ihr Brot und gab es mir. Dann begann unsere Arbeit.”
Nikolai Karpow schildert seine Ankunft in Münster: “Den Bestimmungsort erreichten wir lange vor Tagesanbruch. Die Begleitsoldaten befahlen uns, mit unseren Sachen auszusteigen und uns auf keinen Fall von unseren Ältesten zu entfernen. Unter unseren Füßen war sauberer, kalter Asphalt. Es begann hell zu werden, durch den Morgennebel waren die Umrisse nahestehender fremdartiger Häuser zu sehen. An jedem Waggon fuhr ein Lastwagen mit Anhänger vor; wir mussten aufsteigen und wurden, wie uns mit Hilfe einer Dolmetscherin erklärt wurde, in ein Lager bei Gremmendorf gebracht.
Das Lager, in das wir kamen, war von Stacheldraht umgeben; der Draht war neu, vom Regen und Nebel noch nicht rostig geworden. Zum Tor führte eine asphaltierte Straße, aber auf dem Gelände des Lagers waren die Wege mit Schlacke ausgefüllt, die unter den Füßen knirschte. Vor dem Gebäude, in dem die Kommandantur untergebracht war, gab es eine Art Platz, auf dem man uns antreten ließ, um uns die Ordnung des Lagerlebens zu erklären. Es sprach der Kommandant – ein kleiner dunkelhaariger Mann mit einer Prothese an Stelle der rechten Hand. Unsere Dolmetscherin Tonja übersetzte. In der Rede des Kommandanten kam am häufigsten das Wort “verboten” vor, das wir schon von der Besatzung her kannten. Die Leute, die vom Hunger auf der Reise und nach einer schlaflosen Nacht erschöpft waren, hörten fast nicht zu und warteten ergeben darauf, dass der Kommandant zu reden aufhöre und man uns auf die Baracken verteilte.
In den dunkelgrün gestrichenen Baracken mit weißen Fensterrahmen gab es jeweils drei Räume, und in jedem davon wurden zwanzig Personen untergebracht. In den Räumen standen zweistöckige Pritschen an den Wänden und ein großer, aus einem Benzinkanister gebauter Ofen. Auf den Pritschen lagen Strohsäcke, mit Stroh gestopfte Kissen und dünne Baumwolldecken. Großmutter und ich erhielten die Pritschen direkt an der Tür. Wir legten unsere Sachen ab und saßen lange da, ohne uns zu rühren, dann streckten wir uns aus und lagen dort bis zum Abend. Gegen sieben Uhr kam die Dolmetscherin in die Baracke und erklärte, dass wir mit unseren aus Pappe angefertigten Nummern in die Küche gehen könnten, um dort die Verpflegung für einen Tag in Empfang zu nehmen.” (aus: Der kleine Ostarbeiter)
Etliche Familien wurden dann im Herbst 1943 aus den Lagern Mecklenbeck und Gremmendorf u.a. in das Lager “Waldfrieden” verlegt, vermutlich, um für die bis 1944 nachweisbar ankommenden Transporte insbesondere aus dem Norden Russlands Platz zu machen.
Das Lager “Waldfrieden” war, wie ein damaliger Baulehrling, der am Aufbau der Lager eingesetzt war, berichtete, von derselben Baufirma aus Gremmendorf errichtet worden, die auch das Gremmendorfer Lager gebaut hatte, dort allerdings mit festen Betonfundamenten, wie man an der Birkenheide in Gremmendorf, der ehemaligen Lagerstraße, noch sehen kann. Nach dem Krieg haben einige ihre Häuser drauf gebaut. Die Baracken waren hier wie dort grün gestrichen und bestanden aus drei Räumen für jeweils 20 Personen.
Nadeshda Wladimirovna M., die 1943 als Elfjährige nach Hiltrup kam schreibt: “Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt, das eiserne Tor war hoch. Links war die Küche, wo für uns das Essen gekocht wurde; geradeaus – die Blumenbeete und der Platz, auf dem wir uns morgens und abends aufstellen mussten. In der Baracke Nr. 1 Zimmer 2 wohnte ich mit meiner Familie: Die Mutter, der Vater, zwei Schwester, mein Bruder und ich, die Kleinste. Das Zimmer war groß, da wohnten mehrere Familien und mehrere Alleinstehende. Aber ich erinnere mich nicht, dass es Streit gab. Es wurde nicht viel erzählt, und gelacht wurde auch nicht.
Nikolai Karpow, der als Zwölfjähriger zwischendurch, wie mehrere andere Jungen, in einer Gaststätte – in der Zoogaststätte – arbeiten musste, erfuhr, dass die Großmutter von Gremmendorf nach Hiltrup verlegt worden sei. Er fuhr von der zentralen Arbeitsvermittlung am Hörster Platz mit einem Lastwagen nach Hiltrup. „Ich erblickte das Tor mit dem Schilderhäuschen und dem Posten. Der Lastwagen fuhr auf das Lagergelände, wir stiegen herunter, und ich machte mich auf die Suche nach Großmutter. Ich betrat den ersten Raum der ersten Baracke und begegnete zufällig der Dolmetscherin Tonja, die mit ihrer hochbetagten Mutter und ihrem Mann, einem ehemaligen Polizisten, zusammen ein Zimmer bewohnte, in dem im Lager sonst zwanzig Menschen zusammengepfercht leben mussten.” ... “Ich fand Großmutter in der Baracke 3. Mein Platz war auch hier erhalten geblieben, und wieder schliefen Großmutter und ich in der Nähe der Tür, doch diesmal nicht weit vom Kanonenofen.” ... “Hinter dem Zaun unserer Baracke floss ein winziger trüber Bach, der irgendwo außerhalb des Lagers in den großen Kanal mündete.” In einem Telefonat bestätigte Nikolai Karpow, dass alle 8 Baracken von Ostarbeitern belegt gewesen seien.
Im Gegensatz zum brutalen, gewalttätigen Lagerführer in Gremmendorf schildert Nikolai Karpow den Lagerführer in “Waldfrieden” als gutmütigen Mann, der Kranke nicht zur Arbeit trieb und schlug, niemanden anschrie. Schwächliche Frauen und Mädchen mussten in der Küche helfen, die ja wohl auch für die Lagerinsassen der Hiltruper Röhrenwerke kochte. Mit der Belegung durch sog. Ostarbeiter wurde das umzäunte Lager durch Wachmänner bewacht.
Die meisten Lagerinsassen wurden jeden Morgen von Gremmendorf wie Hiltrup mit Lastwagen oder Trecker mit Anhänger nach Münster gefahren. Dort befand sich auf dem Hörster Platz eine Art Wohnwagen, die Arbeitsbörse, wo Deutsche ihren “Bedarf” anmeldeten. Die “Fremdarbeiter” – vornehmlich sowjetrussische Männer, Frauen und Kinder ab 12 Jahre versammelten sich auf der Wiese an der Fürstenbergstraße, von wo sie von ihren “Arbeitsherren” mitgenommen wurden. Meist mussten sie Trümmerschutt wegräumen. Um 18 Uhr mussten sie wieder abgeliefert werden. Dann fuhr man sie in die Lager zurück. Zu Essen bekamen sie nur einmal täglich am Abend: Suppe aus Steckrüben und Mohrrüben und zwei Scheiben “Russenbrot”.
Der Hunger war vor allem für die Kinder die größte Qual. Deshalb ließ sich der kleine Iwan älter machen. Als wir am ersten Abend des Besuches von Nikolai Karpow einige Schritte vom Kiepenkerl in Richtung Lambertikirche gingen, blieb er plötzlich stehen, zeigte auf den Alten Steinweg und sagte: “Da haben wir Trümmer geräumt, und in die Kirche” – er zeigte auf Lamberti – “bin ich mittags immer gegangen, um zu beten, weil ich so einen Hunger hatte.”
Zum Lagerleben schreibt Nikolai Karpow: “Feuchter, schwerer Schnee weckt in mir immer die Erinnerung an die milden und nassen Winter in Deutschland. Oft denke ich an einen Sonntag im Lager, an dem uns kein für den Verkauf fertig gestelltes Spielzeug zur Verfügung stand und Großmutter und ich bei dem trüben Licht des erwachenden Tages auf der Pritsche saßen und die auf dem kleinen Ofen gewärmte Suppe aßen. Danach legten wir uns wieder auf die Strohmatratzen. Wir lagen, jeder hing seinen Gedanken nach. Die anderen achtzehn Leute aus unserem Raum verbrachten den Sonntag ganz ähnlich. Einige konnten sich nicht beherrschen, verschlangen die ganze Ration auf einmal, starrten dann mit gierigen Augen die an, die sich das Essen einteilten, und hätten am liebsten zu betteln begonnen. Alle erwarteten sehnsüchtig die Essensausgabe am Abend und gingen bis dahin den gewohnten Arbeiten nach, brachten ihre Kleider in Ordnung, kämmten Läuse aus und wuschen der Reihe nach Wäsche im kalten Wasser in einer Schüssel, die für den ganzen Raum ausreichen musste.” Nikolai sagte, dass sie zwar Wasseranschluss in der Baracke gehabt hätten, aber in jedem Raum nur eine Schüssel. Die Lagerinsassen durften die Duschen und Waschräume nicht benutzen. Sie seien nur einmal in der ganzen Zeit alle gemeinsam mit LKWs nach Recklinghausen gefahren worden, wo sie geduscht und desinfiziert und auch die Kleidung desinfiziert wurden. Für die Lagerinsassen befanden sich in der Mitte des Lagers Latrinen.
Die Zwangsarbeiter waren mehr noch als die Deutschen den Schrecken und Bedrohungen des Bombenkriegs ausgesetzt, weil sie nur selten in Bunkern Schutz suchen durften. Allerdings befanden sich im Franziskusbunker 1944 im Eingangsbereich “Fremdarbeiter”, Männer, Frauen und Kinder. Eine damals Fünfzehnjährige, die in einem Friseurgeschäft helfen musste, schrieb, dass ihre Chefin sie in den Schützenhofbunker mitgenommen hätte. Nadeshda M. berichtet für “Waldfrieden”: “Im Sommer 1944 wurden Münster und Hiltrup stark bombardiert. Ich und noch einige Menschen waren an dem Tag im Lager: Rauch, Staub, Explosionen – und wir saßen an die Tür des Bunkers gelehnt – der Wachmann hat die Tür nicht geöffnet. Aber das Schrecklichste kam später, als am Abend die Zwangsarbeiter aus Münster gebracht wurden. Es hatte Tote und Verwundete gegeben. Auch meine Schwester wurde verwundet. An dem Tag sind auch viele Deutsche und Kriegsgefangene umgekommen. Erst als sich in den letzten Kriegstagen das gesamte Lagerpersonal in Hiltrup abgesetzt hatte, konnten die sowjetrussischen Lagerinsassen während der Kämpfe an der Kanalbrücke in den Erdbunkern Schutz suchen.
Die Hiltruper haben das “Russenlager” im Herrenbrock wahrgenommen. Die Kindergefangenen hatten den Kriegsgefangenen das gebastelte Spielzeug abgeguckt, bauten selbst Holzflugzeuge und tauschten sie gegen Essbares ein. Manche Männer seien geschickt beim Besohlen der Schuhe gewesen. Mehrheitlich aber hielt sich die Bevölkerung entsprechend den Nazibestimmungen zurück. Nadeshda M. berichtet jedoch: “Die auf dem Lagerplatz gebliebenen Arbeiter wurden von Privatleuten abgeholt. Meinen Bruder nahm eine deutsche Frau zu sich. Er bat die Frau, auch mich mitzunehmen. Als wir zu der Frau kamen, stellte sich heraus, dass sie keine Arbeiter brauchte, sie nutzte nur die Gelegenheit, uns zu essen zu geben und gab uns die Möglichkeit, uns von dem Lagerleben zu erholen. Und dieser Tag war herrlich lustig und sonnig.
Ich erinnere mich noch: In dem Wald hinter dem Lager baute man Häuser für die Deutschen. Das haben die russischen Zwangsarbeiter gebaut. Da waren auch meine Mutter und ich beteiligt. Der Bauleiter war sehr streng, aber die Leute gingen gerne zu ihm arbeiten, nicht weil die Baustelle in der Nähe war, sondern weil er den Arbeitern Mittagessen gegeben hat. Er war ein MENSCH !”
Seit dem 3. April hatten Jungen des Lagers Amerikaner durch Hiltrup fahren sehen. Die Deutschen hatten längst das Lager verlassen und die Insassen sich selbst überlassen. Die alliierten Soldaten jedoch hatten das Lager noch nicht wahrgenommen. Inzwischen hatte Nikolai am Bahnhof einen offenen Waggon mit Fleisch entdeckt und alle liefen hin, um sich große Teile zu holen. Sie kochten und brieten es – und manch einer bekam fürchterliche Bauchschmerzen, weil er das Fleisch nicht mehr vertrug. Nikolai wurde von seiner Großmutter ermahnt, alles ganz langsam zu kauen und nur kleine Bissen zu nehmen.
Nach kurzer Zeit wurden sie alle in die nun verlassene Luftwaffenkaserne (heutige York-Kaserne) am Albersloher Weg verlegt, wo die Amerikaner alle Familien, die Frauen und Kinder sammelten, versorgten, kleideten und für die Kinder eine Schule einrichteten, denn die Nazis hatten ja für die Sklavenkinder keine Schulen vorgesehen. Manche glaubten den Versprechungen der sowjetischen Offiziere nicht und wanderten lieber in andere europäische Länder oder in die USA aus. Im August 1945 begann dann die Repatriierung in die Sowjetunion. Doch zuvor mussten alle durch die Filtrationslager in der sowjetische besetzten Zone, wo sie vom NKWD verhört wurden.
Die meisten Männer, ob Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter, auch viele Frauen, die in der Rüstung arbeiten mussten, fuhren in den Zügen gleich weiter in die Gulags, denn Stalin hatte alle, die in deutsche Hände gefallen waren, zu” Verrätern des Vaterlandes” erklärt. Den Jugendlichen wurde ein Studium verboten. Valentina, die in Münster geboren wurde, musste sich in ihrem Studium in jedem Semester rechtfertigen, weil sie den Geburtsort Münster hatte. Die meisten Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen kamen 1945 vom Regen in die Traufe. Sie litten in zwei totalitären Regimen. Erst unter Gorbatschow wurden sie rehabilitiert. Da waren die meisten schon nach einem elenden Leben gestorben.
Text: Dr. Gisela Schwarze, Historikerin, Münster
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