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27.6.2008 in Hiltrup: Öffentliche Diskussion zur Bahnreform / 28.06.08

Dr. Kristian Loroch (r.) referiert zur Bahnreform

Dr. Kristian Loroch (r.) referierte in der öffentlichen Diskussionsveranstaltung der SPD Hiltrup-Berg Fidel zur Bahnreform

Bahnreform: eine langwierige Diskussion ist jetzt mit dem Beschluss des Bundestags vom 30. Mai 2008 vorläufig abgeschlossen. Frisches Geld soll der 24,9%-Teilverkauf der Bahn in die Kasse bringen, eine deutliche Steigerung von Schnelligkeit, Pünktlichkeit und Service erwarten andere, eine “Vollprivatisierung der Verkehrssparten” streben CDU und FDP für die Zukunft an.

Die Bahn ist ein höchst explosives Thema. Das zeigt nicht nur die chronische Diskussion über Pünktlichkeit und Umgang mit den Kunden: nachdem der Chef der kleinen Lokführergewerkschaft, Schell, mit seinen öffentlichen Auftritten zum Medienstar geworden war, löste der frühere TRANSNET-Vorsitzende Hansen ihn in den Medien mit einem Eklat ab. Kaum war er von der Spitze der großen Bahn-Gewerkschaft in den Vorstand der Deutsche Bahn AG gewechselt, forderte er massiven Personalabbau. Und in Nordrhein-Westfalen fliegen zur Zeit die Fetzen, nachdem der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr den Vertrag mit der Bahn fristlos gekündigt hat, weil die Bahn angeblich ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllt.

Für die Arbeitnehmer der Bahn ist die Bahnreform ein sehr ernstes Thema. Es geht um den Erhalt des integrierten Konzerns und des konzernweiten Arbeitsmarktes, damit um die Frage „Trennung von Netz und Betrieb“ und eine stabile Bindung der Bundesregierung als 100%iger Eigentümer der DB AG (Holding). Besondere Bedeutung haben dabei der Tarifvertrag zur Struktursicherung und die Einhaltung der umgesetzten Tarifverträge, der Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen bis 2023.

Doch es geht nicht nur um den Schutz von Arbeitnehmerinteressen. Alle Bahnkunden werden die Auswirkungen des Bundestagsbeschlusses und der weiteren konkreten Umsetzung unmittelbar zu spüren bekommen. Das Renditeinteresse privater Investoren kann bei lebendigem Wettbewerb verschiedener Anbieter auf der Schiene Verbesserungen für die Fahr“gäste“ bringen – aber die Erfahrungen mit der britischen Bahnprivatisierung stehen auch für das Gegenteil, und Neuseeland macht gerade die Privatisierung rückgängig.

Die SPD Hiltrup-Berg Fidel nahm den Beschluss des Bundestags zum Anlass, sich in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung am 27. Juni 2008 mit dem Thema Bahnreform detailliert zu befassen. Besondere Aktualität hatte das Thema mit den Medienberichten vom Vortag gewonnen, dass der Bund in einer ganzen Reihe von Projekten (auch in NRW) die Privatisierung von Autobahnen erproben will.

Als fachkundiger Referent stand Dr. Kristian Loroch zur Verfügung. Loroch ist Hiltruper, war für die SPD in der Hiltruper Kommunalpolitik aktiv und arbeitet heute als Rechtssekretär bei der Gewerkschaft TRANSNET in Nürnberg. Er ist Mitglied des Landesvorstands der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen innerhalb der SPD (AfA) und Vorsitzender der AfA-Betriebsgruppe Bahn.

Bahnprivatisierung: Zukünftige Struktur

Bahnprivatisierung: Zukünftige Struktur (Grafik: Dr. Kristian Loroch – TRANSNET Gewerkschaft; 27.6.2008)

Sein Referat machte deutlich, welch lange Vorgeschichte der Beschluss des Bundestags hat, in welchem Zusammenhang er steht und wie wichtig für die Arbeitnehmer der Bahn gerade der konzernweite interne Arbeitsmarkt ist. Ein Beispiel stand für die Problematik: die meisten Lokführer der Bahn müssen mit der traurigen Tatsache leben, dass sie im Laufe ihres Berufslebens irgendwann einen Selbstmörder überfahren. Wer diese psychische Extremsituation nicht verkraftet, braucht einen anderen Arbeitsplatz – der ist aber am ehesten im großen Gesamtkonzern Bahn zu finden, in einem übergreifenden Arbeitsmarkt.

Die sehr lebhafte Diskussion konzentrierte sich im Wesentlichen auf zwei große Themen: wie können die Gewerkschaften in der laufenden Restrukturierung die Interessen der Arbeitnehmer wirksam vertreten, und wie viel Privatisierung kann sich unser Staat leisten?

Zum ersten Thema gab es breite Übereinstimmung in der Diskussionsrunde, dass der Umbau des Bahnkonzerns mit der jetzt beschlossenen Teilkapitalprivatisierung noch längst nicht abgeschlossen ist. Angesichts der klaren Privatisierungsabsichten von CDU und FDP müssen die Gewerkschaften in relativ kurzer Zeit mit einer erneuten politischen Diskussion um die Privatisierung weiterer Bahn-Anteile rechnen. Welche Argumente werden dann im Bundestag wichtig sein? Der Widerstand der Arbeitnehmer gegen weitere Strukturveränderungen könnte Aussicht auf Erfolg haben, wenn neben dem Interesse an einer Besitzstandswahrung weitere Sachargumente gegen die stärkere Privatisierung sprächen: Interessen des Gemeinwesens, wichtige Bereiche der Infrastruktur maßgeblich zu steuern, soziale Kosten, Interessen der Bahnkunden – hier wird sicher innerhalb der Gewerkschaften über eine neue Strategie für die Zukunft zu debattieren sein, eine Strategie nicht nur der Sachargumente sondern auch der Öffentlichkeitsarbeit. Eine schwierige Aufgabe in einem Umfeld, das von aufkommendem europaweitem Wettbewerb geprägt ist und von der Notwendigkeit, die Belastung der öffentlichen Haushalte zu begrenzen.

Das zweite Thema „wie viel Privatisierung kann sich unser Staat leisten“ konnte nach dieser hochinteressanten Diskussion nur noch angerissen werden. Hier wurden Erfahrungen der Kunden mit einer privatisierten Post angesprochen, die einerseits Briefkästen abschraubt und Filialen schließt, andererseits Briefe schnell befördert und im Wettbewerb Telefon und Internet deutlich verbilligt hat. Doch wo ist die Grenze? Auch wenn man den Streit darum ausblendet, welche Dienstleistungen „hoheitlich“ und damit nicht marktfähig seien: was sind die Aufgabenbereiche, in denen der Staat im Interesse seiner Bürger mehr Steuerungs- und Qualitätskompetenz braucht als es die Rolle eines Auftraggebers hergibt? Der Auftraggeber beschreibt zwar ein Produkt, das er auf dem Markt einkauft, und behält formal die Verantwortung, aber er muss weite Bereiche dem Gestaltungsspielraum des privaten Auftragnehmers überlassen. Eine Diskussion, die nach schwersten Verletzungen des Fernmeldegeheimnisses durch die Telekom und nach einem unvorstellbaren Ausmaß von Korruption bei Siemens dringend geführt werden muss: Aufgabenerledigung durch den „öffentlichen Dienst“ zeichnet sich nun einmal durch eine strikte Sachgebundenheit, weitestgehende Korruptionsfreiheit und umfassende Steuerbarkeit aus – und wie die Erfahrungen in Hessen zeigen, ist ein privates Gefängnis nicht automatisch billiger als ein staatliches …

Endlich Ferien! Wir wünschen allen Hiltruper Schülerinnen und Schülern tolle und erholsame Sommerferien. Von wegen Sommerpause!