Oberstufenreform: Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz? / 14.03.08
Die Oberstufenreform, kurz G8 genannt, löst landesweit Proteste aus. Ist es auf der einen Seite die schlampige Vorbereitung des Wechsels, so kommen auf der anderen Seite schwerwiegende inhaltliche Mängel zum Vorschein.
Der Brief eines betroffenen Schulpraktikers an die Landtagsabgeordnete Svenja Schulze beleuchtet die Situation:
„Sehr geehrte Frau Schulze,
die heutige WN-Lektüre (13.3. – Oberstufenreform NRW) und die Lektüre der Planung des Ministeriums im Internet veranlasst mich, Sie bzw. die schulpolit. SprecherInnen der SPD-Fraktion zu ermutigen, wenigstens zu versuchen, auch künftig ein gesellschaftswissenschaftliches Fach für die Abiturprüfung verpflichtend zu machen.
Gerade die SPD Bildungs- und Schulpolitik hat sich vor fast 40 Jahren – und noch weitaus früher – mit Erfolg für diese Fächer stark gemacht: Oberstufenreform 1972: ein Fach aus diesem Bereich muss Fach in der Abiturprüfung sein, Leistungskurse in Geschichte, in Sozialwissenschaften, z.Tl. auch in Erziehungswissenschaft und an wenigen Schulen auch in Philosophie bzw. Religion – m.W. einige kirchl. Gymnasien – waren bis Anfang des 21. Jhdts., sind bis heute möglich.
Die jetzt in NRW intendierte Reform degradiert diese Fächer ungeachtet der noch behaupteten “Gleichwertigkeit” , die faktisch nur noch auf dem Papier steht (das bestätigten mir noch heute Schulleiter von Gymnasien in MS, die ich auf die WN-Berichterstattung hin angesprochen habe).
Zudem stellt diese Reform die Ernsthaftigkeit der angebl. von der Landesregierung gewollten Stärkung der Werteerziehung (so MdL Kaiser, CDU in ‘forum schule’ H 1, 2008 – hier unter Verweis auf die ‘Kopfnoten’ behauptet ) in Frage: gerade wenn es um Interesse an Politik, um politisches Handeln und Engagement geht, wenn es um kontroverse Diskussion, um Streitgespräche, Planspiele, um Dilemmasituationen usw. geht, leisten diese Fächer einen maßgeblichen Beitrag. Dies gilt auch für Themen im Bereich Umweltschutz, Zukunftssicherung usw., was ich angesichts der Vielzahl meiner Unterrichtsbesuche in allen Fächern aus persönlicher Erfahrung bestätigen kann: eindeutig liegt in den genannten Bereichen der Fokus in den Fächern des gesellschaftswiss. Aufgabenfeldes.
Es ist angesichts deutlich zurückgehender polit. Beteiligung (nicht nur) junger Erwachsener – Parteimitgliedschaft, ehrenamtl. Engagement usw. – geradezu grotesk, ausgerechnet diese Fächer zu schwächen. Abiturienten – so kürzlich im Fernsehen – , die nicht einmal die Staatsform der BRD präzise benennen können, wird es künftig offensichtlich noch mehr geben – vielleicht ist dies ja auch von der CDU/FDP durchaus gewollt. Der vielleicht bedeutendste dt. Sozialwissenschaftler, Max Weber … – hat schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Charakterisierung langfristiger Trends, eine des “letzten Menschen” gegeben: “Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz; dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.” (ders., Die protestant. Ethik und der Geist des Kapitalismus).
Sicher wird die SPD-Fraktion in der Auseinandersetzung um die Oberstufenreform in NRW diese o. ähnliche Argumente vortragen – ich würde dies sehr begrüßen.“
So weit die Einschätzung des Fachmanns aus der Praxis.
Die NRWSPD hat dazu eine sehr klare Linie. Schon in einer Pressemitteilung vom 31. Oktober 2006 fordert sie, „die im Rahmen der Oberstufenreform geplante Stundenreduktion in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern zurück zu nehmen“, und im März 2008 mahnt sie dringend die Entscheidung der Regierung zur Reform der Oberstufe an.
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