Anti was? Pro wen? / 22.04.12
Die Graswurzel- und Shitstorm-Fans haben rasanten Zulauf. 9% prophezeien die aktuellen Umfragen für die NRW-Wahl, von Schwarz, Rot und Grün wandern die Stimmen zu den Piraten, angeblich explodieren die Mitgliederzahlen. Mitgliederzahlen, die so piratenmäßig gezählt werden wie es nur geht: jeder darf Mitglied sein, einfach eine Email an die „Verwaltungspiraten“ schicken, fertig. Beitrag bezahlen? Nicht nötig, „für den Erstbeitrag können wir leider noch keinen Einzug durchführen.“ So schreibt die Süddeutsche Zeitung, dass über die Hälfte der registrierten Piraten (ist das nicht ein Widerspruch in sich? Man stelle sich Störtebeker als „registrierten Piraten“ vor!) keine Beiträge bezahlen, echte Freibeuter eben.
Die Freibeuter der Meere haben bekanntlich raue Manieren: das Geld und die Frauen nehmen sie, der Rest wird niedergemacht. Da ist es kein Wunder, dass sich unter dieser Flagge allerlei schräge Figuren tummeln, ehemalige NPD-Bonzen, Leute mit brauner Denke, Leute mit schneller Zunge und langsamem Verstand. Aufsehen erregt das, wenn der Abstand zu den historischen und den neuen Nazis zu wünschen überlässt. Den Berliner Piratenhäuptling Semken fordern die eigenen Leute wegen brauner Tendenzen zum Rücktritt auf, sein Kollege Delius (“Scheiße muss auch mal erlaubt sein”, laut FAZ vom 20.4.2012) musste aus ähnlichem Grund seine Kandidatur für den Bundesvorstand aufgeben, und generell tut man sich schwer mit der Abgrenzung gegen Rechts.
Nun haben solche Polit-Babys sicher das Recht auf eine normale Kleinkindentwicklung – da gehört das Braune in der Windel wohl dazu?
So einfach ist das dann doch wieder nicht. Wer sich überlegt, Piraten zu wählen, muss auch überlegen: will man das unterstützen, dass es da keine entschiedene Haltung gegenüber den Verfassungsfeinden gibt?
Und kritisch hingucken sollte jeder: diese chaotisch – anarchistisch – graswurzelig – sympathische Ablehnung von Strukturen und Hierarchien, ist das mehr als ein Reklamegag? Dieser Piraten-Haufen ist – ganz wie im wilden Leben auf See – in ständiger Gärung, verschleißt seine Anführer in rasendem Tempo. Sobald sich da Köpfe etablieren, fallen sie dem internen Konkurrenzkampf zum Opfer; denn Anführer, die Strukturen aufbauen und das Geschäft steuerbar machen, ja die will die wilde Piratenmannschaft nun gar nicht. Wenn kluge Piraten Erfahrungen im Politikgeschäft sammeln und öffentlich darüber nachdenken, dass man nicht jede Entscheidung nach dem Graswurzelprinzip organisieren kann, dann baumeln sie sehr schnell an der obersten Rah.
Wer will das? Man denke nur an den Kernbereich des Parlaments, das Haushaltsrecht. Politik ist auch hier die Kunst des Kompromisses; wer im Landtag etwas gestalten will und keine absolute Mehrheit hat, muss Bündnisse eingehen, muss mit anderen Parteien verhandeln und in kurzer Zeit verbindliche Entscheidungen treffen. Das steht mit dem Landeshaushalt jährlich an, da bleibt keine Zeit für langwierige Befragungen. Einsparungen wollen die NRW-Piraten im Landtag durchsetzen, anderswo wollen sie Geld ausgeben, das wollen sie in der kurzen Zeit der Haushaltsberatungen täglich durch die Graswurzel-Abstimmung jagen? Das meinen selbst die piratigsten Piraten doch nicht ernst, mit solchen Sprüchen veralbern sie doch nur das Publikum.
Für das werte Publikum gibt es ein Landtagswahlprogramm, das sollte sich jeder mal ansehen, der piratig abstimmen will. Bildung für alle – kommt verdammt bekannt vor, haben da nicht Rot-Grün gerade noch gepunktet? Transparenz, der Begriff wird inflationär gebraucht und dadurch nicht besser, nicht aussagekräftiger; Gemeinnutz vor Eigennutz, ist das nicht auch wo anders abgeschrieben – aber macht nichts, dagegen kann keiner was haben.
Geht es dann ins Konkrete im Wahlprogramm, dann wird es einfach nur noch ärgerlich. Ja gewiss, neue Piraten können alte Probleme noch nicht alle drauf haben, aber müssen sie dann unbedingt etwas zum Thema sagen? „Die PIRATEN NRW setzen sich dafür ein, dass sich die, durch staatliche Transferleistungen bezuschussten Kosten für Unterkünfte am lokalen, durchschnittlichen, örtlichen Mietzins der jeweiligen Kommunen auszurichten haben. Die Ausgaben für Kosten zur Unterkunft (Wohngeld) sind in NRW von 2006 (278 Millionen €) bis 2010 (416 Millionen €) massiv gestiegen. …“ – in Münster ist die Verwaltung gescheitert mit dem pauschalen Rödl-Vorschlag (man erinnere sich, ein Berater), die Unterbringungskosten zu senken: es gab schlicht keine billigeren Wohnungen auf dem Markt, da hilft auch der Piraten-Jammer über die bösen Immobilienkonsortien nicht.
Öffentliche Finanzen, da fällt jedem etwas ein, also auch den Piraten: „Die PIRATEN NRW fordern die Neuregulierung der Richtlinien zur Budgetierung von Land und Kommunen. Hierzu fordern sie die Einsetzung einer parteiübergreifenden Kommission aus Politikern, Bürgern und Experten, mit der Aufgabe, ein Budgetierungssystem zu entwickeln, das bei gleicher Leistung für die Menschen weniger Kosten verursacht und somit zu Einsparungen im Haushalt führt, ohne dass der Lebensstandard der Menschen in NRW sich verschlechtert.“ – na toll! Aber, mal ehrlich, was soll das denn eigentlich heißen? Ist das vielleicht einfach nur die Umschreibung für das alte Rezept „Und wenn Du nicht mehr weiter weißt, dann gründ’st du einen Arbeitskreis“?
Nicht viel besser wird das Programm dann, wenn es in puncto Finanzen ein wenig konkreter wird: „Die PIRATEN NRW setzen sich für Bürgerentscheide bei allen budgetrelevanten Investitionsprojekten ein. Bei den Bürgerentscheiden sollen alle Einwohner mit einbezogen werden, die von dem Investitionsprojekt lokal oder regional betroffen sind. Die Betroffenheit orientiert sich daran, in welcher kommunalen Gliederung das Investitionsprojekt Kosten verursachende Auswirkungen hat.“ – die Schulklos sind kaputt, wir machen einen Bürgerentscheid und fragen alle Bürger von Amelsbüren, Hiltrup, Rinkerode und Drensteinfurt, ob neue Kloschüsseln gekauft werden dürfen? Das ist nicht wirklich prickelnd.
Wirklich originell wird’s erst bei den Sozialleistungen. „Bereiche wie Sozialleistungen müssen von den Kommunen geleistet werden, entscheiden können sie darüber aber nicht. Im kommunalen Alltag ist damit vom Gesamthaushalt einer Kommune nur ein kleiner Teil wirklich durch den Rat zu entscheiden. Die PIRATEN NRW setzen sich dafür ein, die Zuständigkeit dahin zu verschieben, wo über die Zuteilung der Kommunalfinanzen entschieden wird – ins Land.“ – na prima! Brauchst Du Stütze, geh nach Düsseldorf und stell beim Minister einen Antrag! Ehrlich, das ist doch wirklich bekn…
Wer kommt eigentlich auf solche Ideen, ausgerechnet mit den Armen politischen Pingpong zu spielen? Ein Blick ins Programm, Abschnitt Fernsehgebühren, hilft weiter: „Die NRW-Piraten sprechen sich … für eine Beibehaltung der Gebührenbefreiung für Studenten, ALG-II-Empfänger und Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen aus. Insbesondere bei Studenten soll die Einschränkung fallen, die derzeit lediglich BAföG-Empfänger zur Gebührenbefreiung berechtigt.“ – da soll die Verkäuferin mit ihrem mickrigen Gehalt Fernsehgebühren zahlen, der Zahnarzt-Sohn im Studium aber nicht? Leute, was unterscheidet Euch eigentlich von der anderen Zahnärzte-Partei, seid Ihr die Partei der Besserverdienenden, denen die FDP inzwischen zu peinlich geworden ist?
Ein kurzer Ausflug ins Piraten-Programm. Eigentlich sind die echten Piraten ja nur Raffkes und haben kein weiteres Programm; Piraten überleben doch in Wirklichkeit nur durch Tarnen und Täuschen??? Aber es geht auch anders: schauen Sie hier doch mal rein!
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