VorleseClub im Hiltruper Museum
Gut ist ein Buch erst, wenn der Autor 50 Jahre tot ist? Der Hiltruper VorleseClub hatte wieder ins Museum im alten Spritzenhaus eingeladen, und die an diesem Abend vorgestellten Texte hatten es in sich. Flucht und Heimat waren Schwerpunkt, und zu diesem brennenden Thema hatten die Mitglieder des VorleseClubs sehr frische und anrührende Bücher ausgewählt.
Heide Michels-Heyne eröffnete die Lesung mit dem “Mädchen mit dem Fingerhut”.
Michael Köhlmeier erzählt in bewegenden Bildern eine Geschichte von Menschen ohne Herkunft. Irgendwo in einer großen Stadt, in Westeuropa. Ein kleines Mädchen kommt auf den Markt, hat Hunger. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand „Polizei“ sagt, beginnt sie zu schreien…
Die Geschichte der Brüder Sadinam stellte Heide Kraft in einem Ausschnitt vor.
So bedrückend der Aufbruch der iranischen Familie in Bedrohung und Eile war, so nah ist uns die Fortsetzung im westfälischen Lengerich.
Den Kontrapunkt setzte Anne Sandfort mit “Ein ganzes Leben” von Robert Seethaler.
Der Autor erzählt die Lebensgeschichte eines Menschen, der mit seiner “Aura freudloser Muße” zwar dazugehört, dem alltäglichen Treiben aber fernbleibt. In dem vorgetragenen Ausschnitt beginnt der Protagonist einen Aufbruch der anderen Art.
Die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch stellt in Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft Flucht und Vertreibung nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine dar.
Gedankenbruchstücke der Erzählerin sind in dem von Gunthild Klare vorgestellten Protokoll so knapp wie deutlich. Das Grauen des Aufbruchs und die brutale Ausgrenzung der Flüchtlinge werden erzählt, eine Flucht mitten in Europa vor noch nicht einmal 30 Jahren.
Karin Honermann knüpfte nach der Pause an diese Protokolle an.
Wolfdietrich Schnurre lässt in der Nachkriegserzählung “Auf der Flucht” (aus: Die Erzählungen) geradezu im Stakkato einen verzweifelten Flüchtling nach Essen für seine kleine Familie suchen. Geschrieben vor ungefähr 60 Jahren – als ob es in diesem Jahr gewesen wäre.
Für das Flüchtlingsnetzwerk Hiltrup stellte Magdalene Faber kurz Aktivitäten, Einsatz und Erfahrungen vor. Sie schilderte die Reaktion eines kleinen Flüchtlingskindes aus der Unterkunft auf Haus Heithorn: das Kind erkannte auf einem Wimmelbild ein Schiff auf dem Wasser. “Wasser, Schiff, nicht gut” war die Reaktion. Das dunkle Schiff von dem Autor Sherko Fatah, ausschnittsweise vorgelesen von Henning Klare, nimmt dies Thema auf. Der junge Kerim kann nach schrecklichen Erlebnissen bei den Gotteskriegern der Peshmerga fliehen, er macht sich auf den gefährlichen Weg übers Meer nach Europa.
Günter Rohkämper-Hegel schuf den nachdenklichen Abschluss mit Jeder Tag gehört dem Dieb von Teju Cole.
Der Erzähler geht seinen nigerianischen Wurzeln nach und bemüht sich in New York um einen nigerianischen Pass – die nackte Korruption, mit der er sich auseinandersetzen muss, erscheint als internationale Seuche; das Stichwort Fakelaki ist uns gerade erst im Zuge der griechischen Finanzkrise geläufig geworden.
“… ein Fremdling…, fror ich mich durch die finsteren Jahre, zur Heimat erkor ich mir die Liebe” – Gerda Hegel setzte mit Mascha Kalekos Gedicht “Ausgesetzt” den gelungenen Schlusspunkt.