Parteipolitik vor Staatsverständnis
“Dem Minister fehlten die Beweise” betiteln die Westfälischen Nachrichten am 6.1.2017 ihren Leitartikel zum Berliner Attentat. Im Untertitel heißt es, der Minister verteidigte sich vor dem Landtag. Auf Seite 4 lautet der Titel “Viel gewusst – nichts getan”, der Untertitel: “Sicherheitsbehörden waren Amri auf den Fersen – aber im Landtag wird eine Kette des Scheiterns offenbar”.
Überschriften vermitteln die Botschaft von Zeitungsartikeln. Häufig werden nur die Überschriften wahrgenommen, sie bleiben haften. Was bleibt also haften von dieser Ausgabe der Westfälischen Nachrichten? Dem Minister fehlte etwas, bei ihm gibt es ein Manko – das ist nicht gut. Er verteidigte sich – es gab also Vorwürfe, da muss dann doch was dran sein. Viel gewusst und nichts getan – ja wo kommen wir denn dahin, der Minister (oder gleich die ganze Landesregierung) hat die Gefahr gekannt, er hätte handeln können und hat es absichtlich oder aus Schlamperei nicht getan: diese Regierung, dieser Staat ist schuld an dem Attentat in Berlin!
So weit die Botschaften der Westfälischen Nachrichten in den Schlagzeilen. Wie viel Fleisch ist dann dran? Im Kleingedruckten der Artikeltexte geht es dann deutlich nüchterner zu. Minister Jäger hat mit seinen Fachleuten berichtet, was man über Amri wusste, wie man sich um ihn gekümmert hat, welche Möglichkeiten unser Rechtssystem bot bzw. gerade nicht bot, Amri einzulochen und schon vor Monaten abzuschieben. Das Fazit des nüchternen Berichts: kriminelle Gesinnung ist nicht strafbar, Abschiebung ist schwierig. Für billige Vorwürfe an den Minister, an die Behörden, an den Staat gibt es keine Grundlage.
Das Kleingedruckte gibt auch das Kleinkarierte der nordrhein-westfälischen Oppositionsparteien zutreffend wieder. Die FDP, einstmals eine Partei des Rechtsstaats und der Freiheit, schlägt dem Minister allen Ernstes nachträglich vor, er habe doch Amri einfach einlochen sollen, obwohl es keine Beweise für strafbares Handeln gab: Trotz hoher Hürden hätten die Behörden den Versuch wagen müssen. Eine Perversion von Recht. Ausgerechnet die FDP sagt “erst einlochen, dann über das Recht nachdenken”. Die CDU fährt dieselbe Unrechtsnummer: der Minister mache es sich zu einfach, wenn er sich hinter rechtlichen Hürden verstecke. Was wollen diese Parteien tun, wenn sie die Regierung stellen? Systematisch das Recht brechen? Alle rechtlichen Hürden missachten? Es ist einfach unfassbar.
Zu jeder großen Nachricht gehört der Kommentar. Im Kommentar winden sich die Westfälischen Nachrichten nach Kräften. Unausgesprochen wird eingeräumt, dass im Fall Amri – so bitter die Folgen auch sind – niemandem ein Vorwurf zu machen ist. Recht und Organisation ändern, eine wohlfeile Forderung: Amris Abschiebung scheiterte daran, dass sein Heimatland ihn zunächst nicht zurückhaben wollte – sollen alle Ausreisepflichtigen in den Knast, auch wenn es keine Perspektive für die tatsächliche Abschiebung gibt? Wie lange sollen sie sitzen? So lange, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihre Freilassung verfügt?
Ein schaler Geschmack bleibt zurück. Defizite beim Minister, der sich verteidigen muss, viel wusste und nichts tat: ja, die WN sind ein konservatives Kampfblatt, Attacke auf alle nicht konservativen Politiker ist Pflicht. Nein, überzogene Angriffe auf die Repräsentanten unseres Staates, der unsere Freiheiten und unser Wohlergehen garantiert, beschädigen letztlich den Rechtsstaat. Man hüte sich vor dieser Form der Kritik an dem “System”, an den “Eliten”, wenn man nicht das Geschäft von ganz anderen Kräften befördern will.